Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 35


Damit hatten sie allerdings noch nicht die [Gefängnisse] gefunden. Zuerst stießen sie auf ein Waffenlager, als nächstes auf einen Raum gefüllt mit allen möglichen Ersatzteilen aus Holz.
Erst dann gelangten sie durch ein stabiles Tor, welches in einen langen Gang führte. Und da sie immer noch versuchten, so leise wie möglich zu sein, konnten sie das Gespräch aus einem der Gänge hören, der zur Rechten abging. Als sie um die Ecke sahen, entdeckten sie einen vergitterten Eingang zur Linken und eine offene Tür geradeaus, von wo die Stimmen zu kommen schienen. Das Chaos, welches sie in den oberen Stockwerken verursacht hatten, war offensichtlich noch nicht bis nach hier unten vorgedrungen.
"Und was jetzt?" wagte Gunnar leise zu fragen, nachdem sie sich ein Stück zurückgezogen hatten.
"Ist doch klar. Wir müssen da rein."
"Und wie?"
"Wir holen die Schlüssel."
Gunnar schwieg einen Augenblick. Ob er vor seiner Antwort noch überlegen wollte oder einfach sprachlos war, blieb bis zu seiner Antwort unklar.
"Dir ist schon klar, dass wir bisher riesen Glück gehabt haben, überhaupt noch am Leben zu sein? Wir können da nicht einfach reinspazieren. Wir wissen nicht mal, wie viele da drin sind."
"Ich hab' nachgedacht." Gunnar ließ ein verächtliches Schnaufen hören. "Ej! Auf jeden Fall ... Herr Wachtmeister, könnten sie einen Moment lang weghören?"
"Warum? Was könnte so schlimm sein, dass ich es nicht hören sollte? Ist es verdammenswürdiger als die Zauber, die sie auf dem Flugfeld verwendet haben?"
"Eh, nein. Das hatte ich vergessen."
"Du hast einen Zauber, der uns helfen könnte?"
"Naja, ich kann ihn nicht oft wirken, er ist noch ziemlich anstrengend für mich, aber er erschafft eine Schutzhülle, die uns schützen sollte."
"Sollte?"
"Hab mal versucht mit einem Messer auf mich einzustechen, und es kommt schon irgendwann durch, aber es ist eben schwieriger."
"Und wie lange hält der Zauber? Nur damit wir wissen, wann wir uns besser nicht mehr drauf verlassen."
"Etwa zehn Minuten? Au!" Der letzte Ausruf war eine Reaktion auf den Schlag an den Hinterkopf, den Malandro von Wintur erhielt.
"Und das fällt ihnen erst jetzt ein?" Gunnar nickte dazu.

Ein paar wirre und etwas alberne und daher sehr mystische Bewegungen später blickte Gunnar an sich herunter und stellte fest, dass er wenig Vertrauen in einen Zauber hatte, der angeblich Waffen abwehren konnte, aber keine sichtbare Auswirkung hatte. Da sie aber kaum eine Alternative sahen, ging er ängstlich in den Gang hinein, bis er kurz vor dem Eingang stand. Sichtbar aber noch weit genug vom Ausgang entfernt, dass sich ihm nur eine der Wachen entgegenstellen konnte, ohne von einer anderen in seinen Bewegungen behindert zu werden.
Und ohne Zweifel sahen sie ihn. Erschrocken sprangen sie auf.
"Was machst du hier?"
Gunnar, der sich in den letzten paar Minuten dasselbe gefragt hatte, zuckte nur mit den Schultern. Hinter ihm begann Malandro die Expertise, die er als Schlosser gesammelt hatte, auf die Gittertür zu verwenden. Wenn nicht Gunnars Anwesenheit genügt hatte, die beiden Wächter zum Angriff zu provozieren, Malandros Versuch, die Tür zu öffnen reichte definitiv aus.
Der erste Wächter, der auf Gunnar zukam, schwang seinen Knüppel fast entschuldigend, vermutlich, weil er sich noch nicht sicher war, was er mit diesem jugendlichen Eindringlich anstellen sollte. Er musste offensichtlich verrückt sein, aber er war auch gerüstet und bewaffnet. Als er mit seinem ersten Schlag nur einen Fingerbreit vor dem Körper jungen Mannes abgebremst wurde, begriff er jedoch, wie gefährlich er tatsächlich sein musste. Bevor er jedoch seinen Kollegen zurufen konnte, dass hier ein Magier im Spiel war, hatte Gunnar ihm bereits einen Hieb in den Magen versetzt, der die Luft aus seinen Lungen presste.
Der Kampf war zu ende, bevor es Malandro gelungen war, das Gitter zu öffnen. Gunnar und Wintur hatten zwischendurch die Plätze gewechselt, weil eine Wunde am Arm dem jungen Erfinder verdeutlicht hatte, warum er der Magie seines Freundes misstraute.
Es hatte dieses Mal keine Toten gegeben, auch wenn nie auszuschließen war, dass einer der Verwundeten seinen Wunden erliegen mochte.
Der Schlüssel fand sich an einem Haken neben dem Eingang und sie benutzten ihn als erstes, um die Tür zum Raum der Wächter abzuschließen. Gerade als sie Mal von seiner undankbaren Aufgabe erlösen wollten, klickte das Schloss unter seinen Fingern und er grinste sie an.
"Kinderspiel."
Gunnar ließ den Schlüsselbund vor ihm baumeln und sie betraten den Gang mit zwölf Zellen, nachdem Malandros Augen an ihre normale Position zurückgerollt waren. In der vorletzten Zelle auf der rechten Seite fanden sie Kol Therond, der sie aufrecht auf seiner Pritsche sitzend fast gelangweilt anblickte, als wollte er fragen: "Warum habt ihr euch so viel Zeit gelassen?"
"Ich begrüße euren Enthusiasmus. Es macht den Eindruck, als wäre euch auf dem Weg hierher ein wenig Ungemach widerfahren."
"Sehr witzig."
"Wir müssen uns beeilen."
"Geh ich recht in der Annahme, dass diese Befreiungsaktion nicht unentdeckt geblieben ist?"
"Kommen sie schon."
"Gibt es einen Plan, auch wieder herauszukommen? Oder war der Plan nur, mich zu finden."
"Könn' se mal aufhör'n? Tis liegt da vorne und röchelt vor sich hin, Wintur hat ‘nen Schnitt am Hals, Gunnar sieht Sterne und sie brambaseln hier."
Malandro drehte sich um und stapfte aus der Zelle.
"Wollen wir die anderen auch rauslassen?"
"Mach was du willst, Gunnar. Mir stinkt's."
Also öffnete Gunnar die anderen Zellen und entließ fünf weitere Männer in die Freiheit. Zu seiner Überraschung lehnten zwei diese Chance ab und blieben, wo man sie hingesteckt hatte. Im Nachhinein begriff Gunnar, dass diese Entscheidung vermutlich nicht einmal die schlechteste war. Immerhin war es sehr gut möglich, dass sie auf dem Weg hinaus nicht nur ihre Freiheit einbüßen würden.
Einer der Gefangenen hatte wenig später die Gelegenheit, sich zurück in seine Zelle zurückzuwünschen, wenn auch nur für einen Herzschlag, als ihn eine Wache auf der Treppe nach oben durchbohrte.
Glücklicherweise war der Wächter ein einsamer verirrter Einzelgänger, der beängstigend schnell vom Botschafter niedergestreckt wurde.
Zur Überraschung aller war der große Innenhof frei von weiteren Menschen, die sich ihnen in den Weg hätten stellen können. Also rannten sie. Doch nur weil niemand auf dem Hof, war bedeutete das nicht, dass sie nicht trotzdem gesehen wurden. Es gab ein paar Streifschüsse und Pfeile, die in Waffenröcken stecken blieben. Nur Tis, der kaum aus den Augen schauen konnte und über Gunnars Schultern hing, wurde in seiner linken Gesäßhälfte getroffen, was aber kaum zu einer Reaktion seinerseits führte.
Nachdem sie erst einmal den Brunnen hinuntergeklettert waren, blieb nur noch der Weg zurück durch die Katakomben, der dieses Mal zwar an den verschiedensten Kadavern vorbeiführte dafür aber weniger Feinde bereithielt.
Erst als sie wieder vor dem Eingang und auf der Straße standen, fiel ihnen auf, dass ihre Flucht noch lange nicht beendet war und sie blutig und in Waffen offen auf einer Straße standen, auf der sie jederzeit von den Autoritäten entdeckt werden konnten.

Die Jungen aus der Feldstrasse